Heute möchte ich mich um etwas Niveau bemühen. Anstatt dem vielgeschmähten germanischen Großliteraten die ganze Zeit im Wege der Nachäfferei seine überkanditelte Schwurbelsprache und unausgelebte Homosexualität vorzuwerfen, soll jetzt mal mit Sachlichkeit, Respekt, weniger ironischer Distanz und kurzen, adjektivarmen Sätzen zu Werke gegangen werden. Das ist schwieriger. Wirklich.
Zunächst: Ich gewöhne mich ans Buch. Zauberberglesen ist wie in Strümpfen über den Teppich in Omas Wohnzimmer laufen. Das ist ruhig und gedämpft und ich sinke ein bisschen ein. Es passiert wenig, aber langweilig ist mir auch nicht. Die Welt ist auch aus der Ferne interessant.
Sogar latente Homosexualität befürworte ich inzwischen – Wenn sie gut beschrieben wird und so in bürgerliche Hochkultur mündet. Die Episode um Přisbislav (sprich: Pschibislaw) Hippe ist in diesem Sinne eine Erfolgsgeschichte:
Hans‘ homoerotische Neigungen werden früh in der Erzählung angedeutet. Sein größtes, existentiellstes Vergnügen besteht darin, an seiner Zigarre zu saugen. Hier bricht sich jetzt nicht wieder meine Neigung zu billigen Witzen Bahn, so steht es nun mal im Buch. Die weibliche Hauptperson, Klawdia Chauchat, die, im phallussymbolgeschwängerten Traum deutet es sich an, ein gewisses, erotisch konnotiertes Interesse erweckt, trägt männliche Züge. Sie benimmt sich rüpelig und hat wenig damenhafte Hände.
„Statt aber zum Guten Russentisch zu gehen, bewegte die unerzogene Frau sich ohne Laut auf Hans Castorp zu und reichte ihm schweigend die Hand zum Kusse, – aber nicht den Handrücken reichte sie ihm, sondern das Innere, und Hans Castorp küßte sie in die Hand, in ihre unveredelte, ein wenig breite und kurzfingrige Hand mit der aufgerauhten Haut zu Seiten der Nägel.“
Außerdem erinnert Klawdia Hans an jemanden. Zunächst fällt ihm nicht ein, wer das sein könnte. Dann aber, er sitzt vom Wandern überanstrengt mit Nasenbluten auf einer Bank am Gießbach, steht ihm plötzlich ein Ereignis aus seiner Jugendzeit vor den Augen:
Zwei Jahre lang war Hans‘ Schullalltag maßgeblich bestimmt von Přibislav Hippe. Přibislav hat, abgesehen von seinen schmalen „Kirgisenaugen“, die sich auf eine „schmelzende Weise ins Schleierig-Nächtige verdunkeln konnten“, keine Eigenschaften, die des dreizehnjährigen Hans‘ Interesse zu erklären vermögen. Hans versucht auch nicht, seine Gefühle zu bestimmen oder zu benennen, „da kein Gedanke daran war, daß der Gegenstand je zur Sprache gebracht werden konnte“ und er „von der unbewußten Überzeugung durchdrungen war, dass ein inneres Gut wie dieses, vor solcher Bestimmung und Unterbringung ein für allemal geschützt sein sollte.“ Es ist eine Liebe aus der Ferne, die ihre Erfüllung in der freudigen Erwartung auf einen Blickwechsel auf dem Schulhof findet, ohne dass die Jungen je miteinander sprechen. Diese distanzierte Beziehung wird nur einmal durchbrochen und hat ihren Höhepunkt, als Hans in einem Anfall von Abenteuerlust Přibislav bittet, ihm einen Bleistift zu leihen. Přibislav kommt der Bitte nach:
„Und zog sein Crayon aus der Tasche, ein versilbertes Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben mußte, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse. Er erläuterte den einfachen Mechanismus, während ihre beiden Köpfe sich darüberneigten… Das war alles. Aber vergnügter war Hans in seinem Leben nie gewesen, als in dieser Zeichenstunde, da er mit Pribislav Hippe‘s Bleistift zeichnete…“
Das ist eine Liebesgeschichte, in der wenig passiert, zumindest äußerlich. Aber das Wenige wird genüsslich entfaltet. Die subtile, indirekte Darstellung ist reiz- und wirkungsvoll. Nachdem die großen Gefühle so unbenannt und unbestimmt und ohne, dass irgendwer irgendwas sagt – noch nicht mal zu sich selber – beschrieben werden, kommt einer die Stelle, an der der Bleistift aus der Metallhülle wächst, nahezu pornographisch vor. Mir gefällt das. Wenn ich endlich ein bisschen Sekundärliteratur gelesen haben werde, kann ich es vielleicht auch noch besser begründen.
Nachtrag: Aus gegebenem Anlass, zum Thema Phallussymbole – Bleistifte, Zigarren, was auch immer. Wäre ich ein länglicher schmaler Gegenstand (kann nicht aus eigener Erfahrung sprechen, da eher kurzer und unschmaler Gegenstand), würde ich langsam darüber nachdenken, eine Interessenvertretung zu gründen. Diese monothematische Überladung, immer und ausschließlich mit derselben Sache: Pimmel, Pimmel, Pimmel. Wäre ich ein langer schmaler Gegenstand, ich würde vielleicht auch mal etwas anderes symbolisieren wollen (eine Zuckerstange zum Beispiel, die sind immer so schön bunt) und wäre ich ein Penis, vielleicht hätte ich gerne mal meine (metaphorische) Ruhe.