Sevilla

Sevilla ist wunderbar. Ich freue mich, dass ich hergekommen bin. Viele schöne alte und neue, große und kleine, maurische und katholische Gebäude, eine der größten Altstädte Europas, touristisch äußerst attraktiv, aber auch ein moderner Industrie- und Handelsort sowie Universitätsstadt. Mir gefällt vor allem die entspannte Atmosphäre. Nachhaltig begeistert haben mich die vielen Apfelsinenbäume (die es aber vermutlich überall in Südspanien gibt?). Wahrscheinlich gewöhnt man sich an Apfelsinenbäume, genauso wie man sich daran gewöhnt, wenn man neben einer Autobahn wohnt. Irgendwann bemerkt mans nicht mehr. Ich aber habe mich jeden Tag drüber gefreut. Apfelsinenbäume werten einfach jedes In- und Exterieur stark auf.

Außerdem hat Sevilla einen eigenen Rhein. Hier heißt er „Guadalquivir“ (das ist doch kein Name für ein Kätzchen?!) und ist von einer Palmenpromenade gesäumt, auf der sich ein Haufen gut gelaunter Menschen zu Fuß, auf dem Rad oder auch E-Scootern herumtreibt. Nicht nur das Rheinufer, sondern die ganze Stadt ist von einem Netz ca. 2 Meter breiter Fahrrad/Scooter/Inliner/Whatever works-Wegen durchzogen. Für mich als leidgeprüfte Kölner Fahrradfahrerin ist das ausgesprochen beeindruckend. In Köln sind ja die meisten Straßen, die wir Fahrradfahrer*innen uns mit den rücksichtslosen kölschen Autofahrenden teilen müssen, kaum zwei Meter breit. Allein der Anblick dieser großzügig gestalteten Fahrradstraßen ruft ein Gefühl der Entspannung in mir hervor, hier kannste durchatmen als Fahrradperson. So eine menschenfreundliche Raumgestaltung wäre in Deutschland selbstverständlich nicht möglich. Daran hat vor allem Christian Lindner Schuld. Aber natürlich auch diese ganzen anderen Arschlöcher.

Tanger

Es war wieder schrecklich und wieder hätte ich es vorher wissen müssen. Aber ich wollte ja unbedingt nach „Afrika“. Gelohnt hat es sich am Ende dann doch:

Mit der Idee eines Abstechers nach Marokko hatte ich von Anfang geliebäugelt, schließlich dauert die Überfahrt mit der Fähre von Tarifa nach Tanger nur 35 Minuten. Aber nach Tarifa kommt man nicht so einfach und schön ist es da auch nicht. So hatte ich den Plan aus Zeitgründen und durchaus enttäuscht wieder aufgegeben. Um so begeisterter stellte ich dann fest, dass man von Sevilla aus eine Tagestour nach Tanger buchen kann, und schlug begeistert zu, ohne darüber nachzudenken, wie so ein Ausflug sich wohl konkret gestalten würde.

Die Fahrt im Minibus von Sevilla nach Tarifa verlief noch ausgesprochen vergnüglich. Unsere Reisegruppe, vier woke Frauen, eine Mutter mit erwachsener Tochter aus Kanada, eine Frau aus Kalifornien und ich machen unserem Fahrer „Louismi“ (von Louis-Miguel) die Hölle heiß, als er uns erklären will, wie das war, als Columbus Amerika „entdeckte“. Mit den Worten „You are describing a grifter.“ beendet meine neue kalifornische Freundin endgültig die verzweifelten Versuche von Louismi, doch noch etwas Anerkennung für Columbus‘ Leistungen in uns hervorzurufen.

Auf der Fähre gehen die Probleme dann aber los. Aus der erhofften lauschigen Überfahrt wird nix. Fünf Minuten, nachdem wir abgelegt haben, sagen sie durch, dass das Betreten des Oberdecks wegen heftigen Seegangs untersagt ist und dazu blaue Kotztüten aus Plastik ausgeteilt. Und, hui, schwankt das Schiffchen. Ich mache die Augen zu und stütze mich vorgebeugt auf meinen Rucksack ab, das klappt gut. Als ich einmal kurz die Augen aufmache, sehe ich wie eine Frau in eine blaue Tüte kotzt. Mir wird nicht schlecht, aber eine Dreiviertelstunde heftig schwankendes Boot strengt an. Nach ausführlicher Passkontrolle werden wir dann am Hafen von Tanger von unserem Reiseführer, Rachid, in Empfang genommen und mit weiteren Tagestouristen aus Marbella zu einer ca. 20köpfigen Reisegruppe zusammengefügt. Rachid wird sich, das sei vorweggenommen, als das eigentliche Highlight des Ausflugs herausstellen. Eine angenehme, und bis auf, dass ihm die obere rechte Hälfte der Zähne fehlt, gepflegte Erscheinung mit grauem Bart sowie Kaftan und von heitererem Naturell. Keckernd-krächzend lacht er so enthusiastisch über seine eigenen Witze (nicht ganz zu Unrecht, die Witze sind nicht schlecht), dass es ansteckend ist. Ich bin nicht die einzige, die nicht anders kann als fröhlich mitzukichern.

Auf drei Sprachen (insgesamt beherrsche er zehn Sprachen teilt er uns mit, was nicht schwer sei, man müsse nur jeden Tag zweieinhalb Kilo Haschisch rauchen) informiert Rachid uns über die Stationen der Tour: Stadtrundfahrt, Kamelreiten, Herkulesgrotten, Mittagessen, Stadtführung, danach Freizeit und Abreise. „Kamelreiten?!?“ ich hoffe, ich habe mich verhört. Unser kleiner Bus macht sich auf den Weg, Tanger entlang, Kühe und Schafe auf grünem Küstenstreifen, weite Strände, Vororte mit weißen Villen, die saudi arabische Botschaft. Wir halten am Straßenrand, wo ein paar Kamele herumliegen. Wer will, kann für zwei Euro einmal aufsitzen und fünfzig Meter reiten. Nichts würde ich weniger wollen. Ich möchte schon sehr ungern auch nur dabei zuschauen, wie andere das machen. Ich kenne mich mit Kamelen und was die mögen nicht aus, aber ich stelle mir nicht schön vor, wenn ständig fremde Leute auf einen heraufsteigen und dann wieder herab. Ein Kamel leistet dann auch Widerstand. Als der junge Mann, neben dem ich im Bus kurz saß, aufsitzen will, lässt es sich einfach zur Seite fallen und dann noch zwei Mal. Ich gucke erschrocken zu und hoffe, dass das Kamel keinen Ärger bekommt. Der Kamelführer holt tatsächlich einen Stock hervor, bringt ihn aber nicht zum Einsatz. „Oh Mann, Maike, kaum bist Du zehn Minuten in Marokko, schon wird fast ein Tier gehauen“, denke ich traurig und nehme mir vor, nie wieder unfreundlich zu einem zu sein (ein paar Stunden später werde ich davon schon wieder Abstand nehmen müssen, um ein paar Tauben von meinem Café-Tisch zu verscheuchen. Tja.)

Es geht zurück in den Bus, nächste Station „Herkulesgrotten“, wieder schrecklich. Ich verzichte auf einen Bericht. Mir wird langsam klar, dass ich halt eine preiswerte Tagestour mit Führung gebucht habe und dass solche Dinge dann passieren. Irgendwie habe ich in meiner Vorfreude darauf, eine Fußspitze auf den afrikanischen Kontinent zu setzen, vollumfänglich vergessen, was ungefähr die Realität ist. Naja. Ich verzeihe mir und vielleicht erinnere ich mich daran ja, wenn ich das nächste Mal eine Reise buche, vor lauter Vorfreude die Wirklichkeit nicht komplett auszublenden.

Es geht zurück nach Tanger-Innenstadt, wir laufen durch ein, zwei Straßenmärkte, nicht schön, aber ich habe in Europa schon heruntergekommenere gesehen, ein bisschen durch die Stadt zum Mittagessen. In einem Restaurant „Traditional Cuisine“ und „Traditional Music“ gibt es eine kleine Suppe und Couscous, für Leute, die kein Fleisch wollen, sogar nur mit Gemüse, lecker. Unsere Reisegruppe, einige Engländer aus Marbella, dazu noch ein paar Spanier*innen und natürlich meine drei Ladies aus Sevilla, sitzen recht eng aneinander gequetscht, mit leicht desorientier Miene, um einen tiefen Tisch und scheinen sich auch nach dem tieferen Sinn des Ganzen zu fragen. Ich werde direkt neben zwei Herren mit Geige platziert, die für die „Musique Folklorique“ zuständig sind. Sie sitzen auf ihren Hockern, das Instrument auf die Knie gestellt und erzeugen Musik, auf die meine westlich sozialisierten Ohren eher nicht so gut vorbereitet sind. Ich hadere wiederum mit meinem Schicksal, aber vor allem mit mir. Das hätte ich erwarten können. Jetzt ist mein Leben halt so für den Moment (sehr laut).

Dann geht es weiter, Stadtführung, Altstadt und Neustadt (wenn ich das richtig verstanden hab. Die Erinnerung ist verschwommen). Auf und Ab durch die engen Gassen. Dem flinken Rachid hinterher hecheln (Kommentar aus Kalifornien: „He’s a fast little Man!“, „He is like a lizard, isn’t he?“ sollte Louismi, der ihn anscheinend auch schonmal erlebt hat, später auf der Heimfahrt sagen). Wir kommen an einer Moschee und einer Synagoge vorbei. In kleinen, zur Straße offenen Räumen sitzen Männer, die dem einen oder anderen Handwerk nachgehen, Geschäfte, an manchen Punkten Händler, die sehr energisch versuchen, uns Souvenirs zu verkaufen. Die vorherrschende Farbe ist schmuddelig weiß. Tanger ist, zumindest da, wo ich vorbei komme, nicht so schön. Aber das hat wohl auch noch nie wer behauptet. Wir halten, um eine Weberei zu „besichtigen“. Ein junger Mann sitzt an einem Webstuhl, ein anderer erklärt kurz, dass hier Stoffe gewebt, verarbeitet und natürlich – gut für uns – auch verkauft werden. Aber die Leute wollen auch alle was kaufen, ich hab keine Ahnung, aber die Sachen sehen zumindest schön bunt aus. Ich will ja immer nie was kaufen. Andere Leute sind da offensichtlich anders.

Rachid macht derweil Witzchen darüber, dass er von dem Stoffladen eine Kommission bekomme und außerdem, dass er aussehe wie Shah Rukh Khan. Ich kichere fröhlich und meine Reisekollegin aus Kanada fragt interessiert, ob mir Shah Rukh Khan ein Begriff sei. Ich antworte, durchaus, zwar möge ich keine Bollywood-Filme, aber dass Shah Rukh Khan ein ausgewiesen schöner Mann sei, könne man ihm ja deswegen nicht absprechen. Sie erzählt mir, dass sie in Guyana aufgewachsen sei, bis sie dann mit Anfang zwanzig nach Kanada ausgewandert sei. Und in Guyana war so wenig los, dass sie in ihrer Jugendzeit viel Zeit mit Bollywood-Filmen verbracht habe. Ich finde das interessant. Ich weiß noch nicht mal, wo Guyana ist. Aber Shah Rukh Khan kennen wir alle, die Frau aus Guyana, der Mann aus Marokko und ich, eine Kartoffel.

Nächster Stopp ein Geschäft mit marokkanischen Ölen, Kosmetik und Verkaufspräsentation. Ich bin glücklich, einfach rumsitzen zu dürfen, starre erleichtert in die Gegend und schmiere brav drei verschiedene Öle auf mein Handgelenk. Wiederum kaufen meine Reisegenossen eifrig irgendwelches Zeug, vielleicht ist es ja auch gut, wer weiß? Dann ist die Stadtführung beendet, wir haben jetzt noch eine Stunde Zeit zur eigenen Verfügung. Ich schließe mich Rachid und meinen Frauen aus Sevilla an, die sich auf den Weg in ein weiteres Geschäft (Silberware?) machen. An der Tür zum Laden treffe ich eine weiß-getigerte Katze, die sich freut, mich kennenzulernen und auf meinen Arm kommt. Ein schöner Abschluss der Ladentour. Insgesamt hat Tanger viele Katzen, teilweise struppig und angeschmuddelt, jedoch allesamt wohlgenährt, da will ich mich nicht beschweren („Warum gibts in Marokko so viele Katzen? – Weil Marokko nicht China ist.“).

Meine letzte halbe Stunde in Tanger verbringe ich in einem Straßencafé in der Fußgängerzone, wo es jetzt auch nicht so anders aussieht als in der Kölner Schildergasse. Aber was hab ich auch erwartet? Dann geht es zurück aufs Schiff, das Wetter hat sich entspannt und die Überfahrt verläuft ruhig. In Tarifa holt uns Louismi am Hafen ab und begrüßt uns mit „Welcome in Europe“. Als ich dann Abends um elf zurück im Hotel bin, trinke ich zur Entspannung in der Bar zwei, drei mehr Bier als sich am nächsten Morgen als vernünftig herausstellen wird. Es war schon anstrengend, gelohnt hat es sich aber doch.

Córdoba und ein Restaurantbesuch

Córdoba ist schön. Das hätte ich nicht gedacht. „Córdoba“ klingt doch dunkel, nach Stierblut, engen Gassen und einer idealen Kulisse für einen finsteren Film von Luis Buñuel über die inzestuöse spanische Bourgeoisie mit Catherine Deneuve, der ein Bein amputiert werden muss, und den ich auf keinen Fall gucken wollen würde. Stellt sich raus: Das hatte ich mit Toledo verwechselt. Córdoba ist hell, voller Apfelsinenbäume, weiß-bunter mosaikverzierter Häuser, maurischer Architektur, sandsteinfarbener katholischer Kirchen, einer berühmten romanischen Brücke und der noch berühmteren „Mezquita-Catedral“. Von den ehemals 300 Synagogen ist leider nur noch eine übrig (sagt Wikipedia).

Die  Mezquita-Catedral auch „Moschee/Kathedrale von Córdoba“ oder „Kathedralmoschee“ von Córdoba genannt, ist die ehemalige Hauptmoschee aus der Epoche des maurischen Spaniens und jetzt eine katholische Kathedrale. Der riesige Betsaal ist durch Hufeisenbögen in 19 etwa gleich hohe Schiffe mit bis zu 36 Jochen aufgeteilt. Das habe ich von Wikipedia abgeschrieben. Einfacher gesagt, diese sehr große „Kirche“ ist voll von diesen rot-weißen Bögen, von denen die Emire und Kalifen von Córdoba nach und nach immer mehr gebaut haben. Es ist beeindruckend. Nach der Reconquista haben die Katholiken dann einfach ein dickes gotisches KIrchenschiff mitten in die Halle gesetzt. So dieser schwülstige katholische Stil mit viel Gold und Klimbim, der sich aber erstaunlich gut in die Umgebung der schlichten Bögen einfügt. Zumindest architektonisch funktioniert die maurisch-katholische Ökumene hervorragend. Seit 1984 ist die Mezquita-Catedral Unesco-Weltkulturerbe.

Da läge es doch nahe, dieses einzigartige Bauwerk in irgendeine Form von interreligiösem Gotteshaus umzuwidmen. Das wollte aber der örtliche katholische Bischof nicht. Als Grund führte er (laut Wikipedia) an, die Mezquita sei auf den Fundamenten einer Westgotischen Kathedrale errichtet worden und eine derartige Neubestimmung daher abzulehnen.

Die Idee für meinen Aufenthalt in Córdoba kam übrigens aus einer New York Times, die ich mir in Madrid gekauft hatte. Dort riet ein Artikel, „36 Hours in Córdoba“ zu verbringen. Es lohne sich. Unter anderem empfahlen sie, im Restaurant „Almunaìda“ einzukehren und zum Beispiel die Schinkenkroketten zu probieren (die spanische Küche ist insgesamt sehr schinkenlastig). Ich liebäugelte mir der Idee, dort vorbeizugehen. Wann hat man als kölsche Kleinbürgerin schonmal die Gelegenheit, einem Restaurant-Tipp der NYT zu folgen? Zum Reservieren hatte ich keine Lust, aber wer weiß, vielleicht wäre das ja an einem Montag Mittag, Anfang Januar, gar nicht nötig. Und als ich dann dort ankam, hatten sie direkt einen Tisch für mich.

Das Restaurant würde ich als gediegen spanisch-bürgerlich beschreiben. Dunkles Holz, friedliche Jazzmusik, moderat-gehobene Preise, „normales“ Publikum, sehr freundliche Kellner (allerdings sind die Leute immer alle freundlich). Ich bestellte als Vorspeise Anchovis mit Mango und als Hauptspeise Auberginen mit Feta und Minze, dazu Mineralwasser und ein Glas Hauswein (das klingt jetzt doch frugaler als es mir vorkam) und harrte neugierig-freudig der Dinge, die da kommen würden.

Die Anchovis mit Mango sind dann eine leichte Enttäuschung, weil sie mir einfach zu herb. Aber egal, das gehört ja zum Probieren dazu, ich esse brav auf und freue mich über eine neue Erfahrung. Die richtige Katastrophe ereignet sich dann beim Hauptgericht. Ich bekomme eine große Schüssel mit frittierten Auberginenstäbchen serviert. Damit hatte ich nicht gerechnet. Das „ein frittierter Berg von“ muss ich auf der Speisekarte überlesen haben. Ich probiere ein, zwei Stäbchen und gerate leicht in Panik, das sind viel zu viele Auberginen, die kann ich auf gar keinen Fall alle aufessen. Was mache ich nun? Es hilft nur eins, ich schaufele unauffällig eine Handvoll der Auberginen auf den Tellerrand und von da in ein Taschentuch, das ich in meine Mütze verstecke, die auf meinem Rucksack liegt, den ich neben meinen Stuhl an die Wand gestellt habe. Und dann noch eine Handvoll. Ich glaube, ich blieb unentdeckt (das muss ich glauben, man stelle sich vor, das hätte jemand gesehen, wenn das die New York Times wüsste, was für ein Desaster!). Den Rest der Auberginen esse ich auf und hadere:

„Maike, warum gerätst Du nur immer wieder in diese unverhofften Krisensituationen. Kompletter unforced error mal wieder!“, schelte ich mich. Es ist ja nicht so, dass mir sowas das erste Mal passiert. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen qualvollen Nachmittag in einem Straßenrestaurant in Palermo. Unerschrocken und weltoffen wie ich nun mal gerne wäre, hatte ich, ohne näher nachzufragen, worum es sich dabei handeln könnte, den „Fisch des Tages“ bestellt, der sich dann als ein großer Haufen zähen Knorpeltiers herausstellte. Sicherlich eine Delikatesse, an mich aber verschwendet. Auch hier ließ ich Teile der Mahlzeit in meiner Tasche verschwinden. Es wäre mir undenkbar, weil viel zu beschämend und unhöflich, etwas zu bestellen und dann unberührt zurückgehen zu lassen. Ich bin ja grundsätzlich nicht schüchtern und gern auch konfrontativ, solange im Recht. Aber freundliches Restaurantpersonal brüskiere ich nur äußerst ungern, wenn der Fehler auf meiner Seite liegt.

Wenn ich der Situation dann heile irgendwie entronnen bin, nehme ich mir diese Kalamitäten auch nicht mehr übel. Wer was Neues erfahren will, erzielt halt nicht nur angenehme Erlebnisse. Das liegt wohl in der Natur der Sache.

Toledo und Segovia

Insgesamt war es schrecklich. Ich hatte von Madrid aus eine Tages-Bustour inklusive Stadtführungen nach Toledo und Segovia gebucht. Eigentlich wollte ich nur nach Toledo. Aber als ich sah, dass man zusätzlich Segovia besuchen konnte, schlug ich zu. Ich erinnerte mich nämlich, dass Asterix in „Asterix in Spanien“ da auch Station machte und dachte, dann wird das bestimmt interessant.

„Hoffentlich ist es in Toledo und Segovia nicht so hügelig“ dachte ich noch bei mir, bevor ich die Reise antrat. Mit meiner schwachen Lunge ist in Gruppen wo hochlaufen das Letzte, was ich möchte und kann. „Toledo kommt aus dem Lateinischen und heißt Erhebung“ teilte uns die Reiseführerin gleich zu Beginn der Tour mit, mir schwante nichts Gutes und ich geriet dann auch ziemlich ins Keuchen. Schön war es nicht. Allerdings ist Toledo ein geschichtsträchtiger Ort, der ruhig einmal besucht werden sollte (vielleicht nicht unbedingt durch mich). Die Stadt wurde von Römern, Westgoten, Mauren und dann natürlich den Christen beherrscht und auch die Juden haben Spuren hinterlassen. Bis 1561 war sie die Hauptstadt Kastiliens unter Karl dem Fünften der Deutschen und dem Ersten der Spanier (wie er in Spanien genannt wird). Dann wurde die Hauptstadt nach Madrid verlegt, was sich ziemlich genau in der Mitte Spaniens befindet. Luis Buñuel wurde von Toledo und seiner dunklen Atmosphäre zum Surrealismus im Allgemeinen und dem Film „Tristana“ mit Catherine Deneuve im Besonderen inspiriert (ich habe mich auf Arte informiert, es scheint kein Film zu sein, den ich sehen wollen würde).

„Hoffentlich ist Segovia nicht ganz so hügelig wie Toledo“, hoffte ich dann während unseres zweistündigen Transfers und mein Wunsch sollte in Erfüllung gehen. „Ziehen Sie sich alle Klamotten an, die Sie dabeihaben, wenn wir in Segovia aussteigen, dort ist es manchmal so kalt, dass einem die Hände wehtun“, warnte uns dann die Reiseführerin als wir am Ziel ankamen. Na gut, das hatte ich eh vorgehabt. So sehr kalt wurde es nicht, aber ausgesprochen nass. Es hatte angefangen zu regnen. Und es wäre vermutlich schlau gewesen, es der Mehrheit meiner Reisegruppenmitglieder gleichzutun und auf die Stadtführung (im Regen) zu verzichten und mich einfach für die Zeit des insgesamt zweieinhalbstündigen Aufenthalts in ein Café zu flüchten. Aber ich habe es nicht über mich gebracht, sondern bin tapfer der netten Stadtführerin hinterhergestapft durchs schöne Segovia. Die Stadt hat einen römischen Aquädukt, maurische Architektur, eine imposante spätromanische Kathedrale sowie ein berühmtes „Alcázar“, dem Walt Disney das Schloss in Schneewittchen nachgebildet hat. Als die Tour vorbei war, hatte ich noch eineinhalb Stunden freie Zeit und sehr nasse, kalte Füße, gegen die ich was unternehmen musste. Also ging ich ins nächsten Touristengeschäft und kaufte mir ein paar grüne Wollstrümpfe. Dann kehrte ich ins nächste Café ein, bestellte mir einen Kaffee und eine örtliche Kuchenspezialität (eine Ponche, mit Vanillecrème-Füllung und Marzipan obendrauf) und versuchte mir möglichst unauffällig unter dem Tisch meine nassen Strümpfe aus und die neuen trockenen wieder an zu ziehen. Zwar verschüttete ich unter den beengten Bedingungen den halben Kaffee und einiges an Hoffnung, dass vielleicht doch noch alles gut werden könnte, aber ich glaube, ich blieb unentdeckt.

So saß ich dann ein Stündchen mit trockenen Füßen, die ich schuhlos unterm Tisch versteckte, im Warmen und war ganz zufrieden, ärgerte mich aber gleichzeitig, dass ich nur ein Paar Strümpfe gekauft hatte, denn sobald ich meine nassen Turnschuhe wieder anzöge, würden die Füße ja wieder nass. Also suchte ich das nächste Geschäft auf und kaufte nochmal neue Strümpfe, die ich insgesamt, unter jeweils komplizierten Bedingungen, noch zweimal wechselte. Die Rückfahrt im ruhigen, dunklen Reisebus voller erschöpfter Toledo und Segovia-Besucher*innen war dann eindeutig der schönste Teil der Tagestour. Ich freue mich schon ein bisschen, wenn ich wieder nach Hause und zur Arbeit darf. Da ist es meiner Erinnerung nach nicht so anstrengend.

Madrid

Gleich gehe ich los, um mir „Guernica“ von Picasso anzuschauen. Lust habe ich keine. Aber das ist halt das Leben eines kulturprotestantisch sozialisierten Lehrerkinds. Man macht ständig Sachen, zu denen ein keine Lust hat, aber denkt, dass sie sich dringend gehören. („Ja, Maike, dann überwinde das doch, und mach einfach jetzt Sachen, die Dir Spaß machen, niemand kanns Dir mehr verbieten!“, mögen Lesende, die mitdenken, mir an dieser Stelle zurufen wollen. Aber, als kulturprotestantisch sozialisiertes Lehrerkind, ist man so entfremdet von sich selbst, dass man gar nicht mehr weiß, wozu man Lust hat. Da kann man ja dann auch was machen, wozu man keine Lust hat, aber der Anstand gebietet es.)

Von Guernica hat mir meine Mutter meiner Erinnerung nach schon erzählt, als ich noch ganz jung war. Von dem brutalen Angriff der Legion Condor und dass Picasso dann dieses riesige Bild darüber gemalt hat. Ich konnte mit dem Bild (auf Bildern gesehen), nie was anfangen. Es ruft keinen Schrecken in mir hervor. Ich muss hauptsächlich denken „Picasso“ wenn ich es sehe, halt diese schiefen Köpfe, die er immer malt und die mich nicht so ansprechen. Meine Lieblingserinnerung an Mutters Politisierungsanstrengungen ist übrigens wie sie mir (es muss ja in den frühen Achtzigern gewesen sein), berichtete, dass in Amerika, die Menschen statt Geld einfach Plastikkarten haben. Und mit den Plastikkarten können sie alles bezahlen und merken deswegen nicht mehr, wenn sie zu viel Geld ausgeben, was am Ende sehr schlecht ist für die Menschen, weil sie sich hoffnungslos überschulden.

Ich denke da gern dran, weil ich denke, wow Maike, Du kannst Dich noch an die Zeiten erinnern, bevor es überhaupt EC-Karten gab. Ganz Unrecht hatte Mutter nicht, „Credit Card Debt“ is a thing in the US. Die Leute und das Land machen ja wirklich viel zu viele Schulden. Volkswirtschaftlich müsste man das allerdings wohl differenzierter betrachten. Der Inflation Reduction Act, schuldenfinanzierter Umbau in eine (vergleichsweise) grüne Industrie, ist ja zum Beispiel eine gute Sache, auch wenn er tausende Billionen Verschuldung kostet. Kann den USA ja egal sein, wieviele Schulden sie haben, too big too fail.

Ach so. Madrid ist sehr schön, prachtvolle, helle Paläste, Museen (ich war im Prado, obwohl ich keine Lust hatte), Alleen, zu groß zum fotografieren. Es ist nicht so lieblich und touriparadisisch wie Barcelona, aber darüber erhebt es sich unbeeindruckt mit königlicher Eleganz. Und ich habe eine umwerfende „Food Hall“ entdeckt (naja, entdeckt, mitten in der Stadt, sehr berühmt, alle kennen schon), den Mercado San Miguel. Lauter umwerfende Köstlichkeiten und was ich so toll dran finde: Alles in sehr kleinen Portionen, man kann von Stand zu Stand schlendern und viel probieren, Oliven, tausend Arten Fisch, Austern, Sachen mit Hummer, festliche Pastetchen, kleine Paellas, Fleisch natürlich auch, Eierspeisen, Obst, alle Arten von Alkohol natürlich (die alkoholfreie Sangria war allerdings ne Enttäuschung, aber never mind, Mercado San Miguel, you made my day).

Mit lieben Grüßen an das Gkrmbl!

Barcelona, zweiter Tag

Gestern war es herbstlich. Als ich gegen acht Uhr aufwache, scheint die Sonne schon ziemlich aufdringlich zum Fenster herein. „Hui, das könnte heute ein anderer Schnack werden“, denke ich bei mir. Und, tatsächlich, am Strand ist das volle Leben ausgebrochen, viele Leute, davon gefühlt allein hunderte Beachvolleyballer*innen, wenige baden, viele sitzen, stehen, laufen fröhlich herum, fliegende Händler bieten Mojitos und Sangria to go feil. Ab vormittags sind die Cafés und dann die Restaurants voll. „Deine Fotos sehen ja aus wie in Florida“, kommentiert Mrs. Columbo die Bilder, die ich ihr schicke. Ich laufe den Strand entlang, um zum Aquarium zu gelangen und mir wird richtig warm. Als ich mich zum Ausruhen hinsetze, achte ich darauf, mich im Schatten zu platzieren.

Ich freue mich für die Barcelonenserinnen und Barcelonenser, dass sie so einen schönen Tag am Strand haben (es ist Samstag). Im Sommer und ich nehme an, auch im Frühling und Herbst müssen sie sich ihren Strand und Teile der Stadt mit den ganzen Urlaubenden teilen, was ich mir reichlich ätzend vorstelle. „Kinderchen, jetzt habt ihr Eure schöne Stadt mal für Euch“, sage ich in Gedanken zu ihnen. Und Beachvolleyball spielen ist ein idealer Sport wenn es nicht ganz so heiß ist, denn dabei wird einem ja schnell warm.

Ich gehe essen, ins Aquarium, spaziere herum und stelle abends im Hotel fest, dass ich mir tatsächlich einen Sonnenbrand eingefangen hab. Aber dann sage ich mir, wer es am 6. Januar schafft, im Urlaub einen Sonnenbrand zu kriegen, ohne dass they dafür wo hingeflogen ist, hat alles richtig gemacht.

Barcelona

Heute habe ich sehr schlechte Laune und sehe pessimistisch in meine individuelle und die allgemeine Zukunft. Aber gerade dann sollte man ja Sachen ins Internet schreiben (oder verwechsle ich das mit „nicht die Therapiestunde schwänzen?“). Naja egal, immer wieder vergesse ich in meiner Reisevorfreude, dass ich meine schlechte Laune ja mitreist und mich auch zu völlig unpassenden Momenten anfällt.

Gleich gehe ich in die Sagrada Familia. Das Ticket habe ich schon in Deutschland gebucht. Das Internet ist, was sowas betrifft, ja wirklich praktisch. Aber es macht das Leben auch so vorhersehbar. Googlemaps sorgt dafür, dass ich mich nicht mehr verlaufen kann und der Zwang, alles im Internet zu bestellen, dass auch sonst nix mehr schiefgeht. (Außer das Internet fällt aus, schon klar). Naja. Barcelona ist bekanntlich die beste Stadt der Welt (außerhalb Italiens natürlich). Sie hat alles, Berge, Meer, die allerbeste Kultur, Geschichte und, wie ganz Spanien, Tortilla zum Frühstück. Worüber soll ich mich hier noch ärgern außer über mich selbst?

Ich mache mich auf den Weg. Muss ja sein. Der Strand ist ziemlich menschenleer, paar Spazierende, Männer mit Hunden, Beach-Volleyballer, wenige Surfer, die Strandbars und -cafés sind geöffnet, ein paar Menschen sitzen sogar draußen. Ein bisschen wie an der Nordsee im Herbst, nur der Sand ist gelber. „Nicht die schlechteste Idee, im Januar nach Barcelona zu fahren, da hab ich ja ganz Spanien für mich allein als Einzelkartoffel“, sag ich mir und schreite halbwegs munter die Küste entlang. „Aber auch nicht die allerbeste Idee,“ denke ich dann bald, denn es ist schon auch recht dunkel und ruhig. Vielleicht doch kein Zufall, dass es hier momentan leerer ist als im August.  Nach einem Stündchen gemächlichen Spaziergangs wende ich mich Richtung Stadt und nehme die Metro zur Sagrada Familia.

Da ist es dann mit der herbstlichen Ruhe vorbei. Hier brummt es vor Touristen wie im Sommer, kann man ja auch verstehen. Hier wollen alle mal her, wo hat man sowas wie diese bunte, wilde Kirche, mit Obst und Scherbenmosaik auf den Kirchturmspitzen, Verzicht auf leidende Marien und gerade Linien, dafür abstrakte Glaskunst als Fenster und einem komplett nackten Jesus schonmal gesehen? Ich meine: nirgendwo.

Kew Gardens

An meinem ersten Urlaubstag in London war ich in Kew bei den königlichen botanischen Gärten. Endlich, da hatte ich unbedingt mal hingewollt. Auch hier lenkten wieder die Kindheitserinnerungen meine Schritte. Seit ich vor langer, langer Zeit „Wassermusik“ von T. C. Boyle gelesen habe, ist Kew ein magischer Ort für mich. Wassermusik handelt von den Expeditionen des schottischen Forschungsreisenden Mungo Park, der sich zum Ende des 18. Jahrhunderts (1795 – 1797) aufmachte, um den Verlauf des Nigers zu kartographieren. Die Botaniker in Kew unterstützten solche und andere Expeditionen, da sie begierig auf die außereuropäischen Pflanzen waren, welche die Forschenden von ihren Reisen mitbringen sollten. T. C. Boyle wiederum beschreibt das alles mitreißend und ruft die riesige Neugier auf die damals in Europa noch unbekannte Welt so lebendig hervor, dass man ein bisschen davon abhaben und dringend auch mal nach Kew und seinen bedeutenden botanischen Gärten will.

Die Anfänge der Gärten lassen sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Sie gehören zu den ältesten und größten botanischen Gärten der Welt (wobei sich „Größe“ bei botanischen Gärten, glaube ich, an Anzahl der versammelten Pflanzenexemplare bemisst, nicht in Quadratmetern). Kew Gardens ist Unesco-Weltkulturerbe, seine denkmalgeschützten viktorianischen Gewächshäuser äußerst berühmt und die Anlage erfüllt haufenweise weitere Superlative. Zum Beispiel haben sie dort eine eigene Polizei. Zumindest als 1913 die Suffragetten das „Tea House“ des Gartens niederbrannten, hatte die auch mal was zu tun.

Kew ist also unbestreitbar spektakulär. Jedenfalls für Menschen, die sich für Blumen, Bäume oder andere Pflanzen interessieren, zu denen ich aber, das merkte ich mal wieder, eher nicht gehöre. Die Gewächshäuser rissen mich leider wirklich nicht so vom Hocker, ebenfalls nicht die Gartenanlage (es ist mir ja selber unangenehm). Am besten gefiel mir der Baumwipfelpfad. Auf 20 Meter Höhe erstreckt sich ein 200 Meter langer Rundgang auf 200 Metern durch einige schöne Baumwipfel. Das wollte ich schon immer mal gemacht haben, durch Baumwipfel spazieren. Es stellte sich heraus, dass Baumwipfel auf die botanisch unkundige Person nicht so sehr anders wirken als ein Gebüsch in Bodennähe. Immerhin weiß ich das jetzt auch.

Kindheitserinnerungen

Am Dienstagabend nach meiner Ankunft mit dem Zug spazierte ich noch sehr beschwingt drei Stündchen durch London. Mein erstes Ziel war der Leicester Square mit Chinatown. „Chinatown“ fanden wir als Kinder die spannendste Sache der Welt. Nachdem ich dann mal im echten „China“ gewesen  war und insgesamt abgeklärter, ebbte diese Faszination ab. Trotzdem wollte ich, als ich vor vier Jahren zum ersten Mal als „Erwachsene“ nach London kam, unbedingt nochmal da hin nach Chinatown, gucken, wie es da so ist, heutzutage. Es war weniger „chinesisch“ als in meiner Kindheitserinnerung, einfach nur eine Straße mit chinesischen Restaurants. Eines davon suchte ich mir aus, um zum ersten Mal in meinem Leben Dumplings zu probieren. Die Dumplings waren lecker, aber das wahrhaft aufregende war die vegetarische Gemüsesuppe, die ich mir zu den Dumplings dazubestellt hatte. Sie schmeckte genauso wie die süß-sauren Pekingsuppen der deutschen Chinarestaurants, auf die ich als Kind so versessen war. Während ich dies hier aufschreibe, freue ich mich noch über die unverhoffte Suppe und denke an die Doktoranden am Nebentisch, die sich über ihre Mutter unterhielten (hatte ihre Doktorarbeit leider nicht zu Ende geführt).

Eine schöne Erinnerung, die ich seitdem mit mir herumtrage. „Wenn Du mal wieder nach London kommst, gehst Du wieder in das Restaurant, die schöne Suppe essen“, sage ich seit vier Jahren von Zeit zu Zeit zu mir selber und fühle mich sehr weltkundig, da ich ja ein Stammrestaurant in London habe. Also, in London angekommen, auf den Weg gemacht, Leicester Square gefunden, Chinatown gefunden, aber – ich spare mir den langen Spannungsaufbau – das Restaurant war nicht mehr da. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich laufe die Restaurant-Straße ein paarmal auf und ab, finde es aber nicht. (Das Restaurant war nach meiner Erinnerung eindeutig erkennbar daran, dass sich hinter dem Eingang eine offene Küche befand, wo man den Köchen beim Dumpling-Herstellen zuschauen konnte, ich hatte die Teigrollen noch vor Augen.)

Ich bin einigermaßen enttäuscht, aber auch ein bisschen liebevoll amüsiert über mich und meine kleinen Träume: „Na Maike, da haste Dir mal wieder was vorgestellt, was dann gar nicht so ist“, sage ich freundlich zu mir selbst. Ich setze mich in eins der anderen Restaurants, mache Fotos von den über die Straße gespannten roten Chinesischen Lampions und gerate in eine nette Unterhaltung mit meiner Tischnachbarin, einer Reiseunternehmerin aus Hamburg. Wir stoßen auf die Geschäfte und die Frauen an. Ich erzähle ich die Geschichte von meiner gescheiterten Suppenexpedition und sie sagt „time to make new memories“.

Ein Teesalon namens Stalingrad

Eigentlich wollte ich nach Venedig. Aber ich habe der Deutschen Bahn nicht zugetraut, mich rechtzeitig von Köln zum Anschlusszug nach München zu bringen und dann hätte ich am Ende Urlaub in Bayern machen müssen. Also London, das ist logistisch nicht ganz so herausfordernd. Allerdings immer noch herausfordernd genug. Statt einer brauchte der ICE von Köln nach Aachen über zwei Stunden. Aber irgendwie wurde der Eurostar nach London trotzdem noch erreicht. Immerhin kann man beim sich aufregen über den deutschen Zugverkehr nette Plauder-Kontakte knüpfen. Ich glaube, ich hatte noch nie so vielfältige Begegnungen auf einmal wie heute: Ältere Deutsche Hippies, eine freundliche Dame aus England, die von einer Fahrradtour aus Lübeck kam, junge Burschen auf Interrail, only to name a few. In Brüssel fuhren wir an einem „Salon de thé“ namens „Stalingrad“ vorbei. „Das ist doch kein Name für ein Kätzchen!“, sagte ich verwundert zu mir selbst und erinnerte mich daran, wie mir Mrs. Columbo mal nicht so richtig glauben wollte, dass es in Paris eine gleichnamige Metro-Station gibt. Ich verstehe gut, warum der Begriff „Stalingrad“ bei vielen Menschen positive Gefühle auslöst und sie möglichst viele Dinge damit benennen möchten. Auf eine gewisse Weise ist es trotzdem der maximal unpassendste Name für einen Teesalon, oder?

Jetzt sitze ich im Eurostar nach London, da kann ja nicht mehr sooo viel schiefgehen. Als ich das erste durch den Channel Tunnel fuhr, war ich enttäuscht. Denn man bekommt ja gar nichts davon mit, dass man unter dem Meer ist. Ja, weniger romantische und naive Menschen wissen das vorher, ich eben nicht. Allerdings, wenn sie schon nicht genug Geld für einen Glastunnel hatten, hätten sie wenigstens das Zug-Interieur ein bisschen spacig-avantgardistisch gestalten können. Gemessen am Zweck ist es viel zu piefig. Trotzdem bin ich bester Dinge. Nur an Proviant mangelt es mir: Zwei mittelgroße Äpfel von Köln bis nach London ohne gefrühstückt zu haben, ist für mich kleinen Fressack zu wenig. Ich verspeise den ersten Apfel und überlege, den Aufkleber als Sättigungsbeilage mitzuessen.

Morgen fahre ich dann nach Kew, um mir die königlichen botanischen Gärten anzuschauen. Diese, Stalingrad sei Dank, stehen bis heute unter englischer Herrschaft. Das viktorianische Glashaus, so sagen Menschen, die es wissen müssen, ist einer der schönsten Orte überhaupt. Ich werde berichten.