Ryan Stecken oder Mainstream der Transidentitäten

Liebe Nichten und Neffen,

Der befreundete Onkel hat mich auf ein interessantes Phänomen aufmerksam gemacht: Angeregt von Ryan Stecken, einer Teilnehmerin der aktuellen Staffel von Deutschland sucht den Superstar, wirft er die Frage auf, ob Transgender/Queer nicht inzwischen so mainstream ist, dass sich die entsprechende Avantgarde bald ein neues Aufgabenfeld suchen muss. Ryan ist biologisch eine Frau, verwandelt sich aber mit Hilfe angeklebter Barthaare und abgeklebter Brüste von Zeit zu Zeit, zum Beispiel für ihre Gesangsauftritte, in eine „Boy Tunte“ (Hier ein kurzes Video – Ich finde sie nett). Zwar ist es mit den Steinzeit-Sexisten Dieter Bohlen („Ist ja abartig, Deine Performance!“) und Kay One („Ich muss gleich kotzen!“) nicht immer ganz einfach. Beim RTL-Publikum, das ihr durch sein Voting eine Wild Card für den Recall verschafft hat, kommt Ryan dafür umso besser an. Zum weiteren Beweis, dass das Thema die ARTE-Nische für immer verlassen hat, führt der Onkel die auf RTL 2 in der zweiten Staffel laufende Doku-Soap „Transgender – Mein Weg in den richtigen Körper“ an. Ich zitiere aus der Inhaltsangabe von Folge 007: „Seit zwei Jahren lebt die 16-jährige Selina als Mädchen. Schule ist für den Teenager inzwischen Nebensache – für sie dreht sich alles um ihren Weg zur Frau. Oma Petra macht sich große Sorgen, denn Selina wiederholt bereits die achte Klasse. Das Überprüfen der Hausaufgaben sorgt regelmäßig für Streit.“ Ich lege das so aus, dass die Großmutter sich über die schlechten Schulleistungen und nicht die Transidentität aufregt. „Und dass Schwule Kinder adoptieren können, wissen die Leute spätestens seit Patrick Lindner, was bleibt denn da noch aufzuklären oder zu fordern? Umbenennung in ‚Deutschland sucht den/die/das Superstar*in‘?„, resümiert der Onkel schlagfertig und etwas politisch unkorrekt. Naja, also ein Gendersensibilisierungskurs für Dieter und Kay One müsste schon noch drin sein (Besser noch: Schwanz ab, ohne Betäubung, aber das sag ich lieber nicht.).

Um es in aller Deutlichkeit klar zu stellen: Hier sollen die vielfältigen, zum Teil unerträglichen institutionellen und ideellen Unterdrückungsmechanismen, mit denen es viele Trans*- und Queerleute alltäglich zu tun haben, nicht klein geredet oder geleugnet werden. Aber, in der Tendenz liberalisiert sich das Klima deutlich. Auch in den Urteilen des Verfassungsgerichts zum Transsexuellengesetz spiegelt sich das wider. Die aktuelle Rechtslage ermöglicht beispielsweise theoretisch (lest hier), Schwangerschaften transsexueller Männer. Ich finde das einigermaßen tolerant. Einen weiteren Meilenstein der Aufklärung sehe ich in der Stellungnahme des Ethikrates zu Intersexualität (Nicht der griechische Philosoph, der Ethik-Rat ist gemeint). Die Erkenntnis, dass Geschlecht und geschlechtliche Identität nicht binär, polar und festgelegt, sondern vielmehr ein variables Kontinuum sind, findet zunehmend Einzug in Gemüter und Gesetze.

Und wie wir so von Onkel zu Onkel am diskutieren sind, fällt mir eine beliebte Verschwörungstheorie heterosexistischer Linkspolitmacker ein, die immer wieder gerne mal behaupten, diese ganze Identitätspolitik sei eine Erfindung der CIA. Das ist vermutlich falsch, aber einen wahren Kern hat die Idee: Die Jugend von heute scheint mir weit mehr mit dem Status ihrer Genitalien und sexueller Identität als mit Klassenkampf beschäftigt zu sein. (Ein alter Onkel wie ich, der wichtige Teile seiner Jugend in trotzkistischen Sommerlagern verbracht hat, darf das so sagen.) Ersteres sei ihnen natürlich gegönnt, die Dekonstruktion und Befreiung von Stereotypen ist eine wichtige gesellschaftliche (und persönliche) Angelegenheit. Aber: Wenn ich mich dieser Aufgabe losgelöst von anderen sozialen Phänomenen widme, bleiben meines Erachtens wichtige Fragen auf der Strecke. Welche gesellschaftlichen (Macht)Verhältnisse führen überhaupt zu Stereotypisierungen, Zuschreibungen und Ausgrenzungen? Wie verhält sich identitäre Liberalisierung zu sozialer, wirtschaftlicher Prekarisierung und Verengung von Räumen? Erzeugen letztere nicht wieder auch reaktionäre Gegenbewegungen? Und andere Ausschlüsse? Um es flapsig zu formulieren: Heutzutage kann ich mit einem Sofa oder meinem Schäferhund liiert sein, solange ich etwas anbieten kann, was der Markt nachfragt (ans Computerprogrammieren denke ich dann immer neidvoll – und daran ist nichts auszusetzen, solange der Hund über 18 ist und in keinem finanziellen oder sonstigen sozialen Abhängigkeitsverhältnis zu mir steht). Volker Woltersdorff skizziert hier ein paar typische Kritikpunkte an queer:

Eine Kritik an queer theory beläuft sich z. B. darauf, dass sich queer zu sehr in der Nähe von Kommerz und Spaßkultur bewegen würde. Queer diene dann nur noch als Distinktionsmerkmal für eine junge konsumorientierte Generation von Schwulen und Lesben, die mit dem moralischen Rigorismus ihrer Vorläufergeneration nichts mehr zu tun haben wollen. All das, zusammen mit der absichtlichen Unschärfe des Begriffes queer würde zur Beliebigkeit dieser Kategorie beitragen. Außerdem würde queer Sexualität überbetonen und andere Achsen der Herrschaft vernachlässigen. Dieser Vorwurf verbindet sich meistens mit der Feststellung, dass queer eine kulturalistische und damit idealistische Politik betreiben würde. Es gehe nur um Fragen der kulturellen Anerkennung und nicht um Fragen der Verteilung von gesellschaftlichem Wohlstand. Schließlich wurden queere Politikstrategien kritisch ins Visier genommen: Angekreidet wurde eine einseitige Bejahung von Öffentlichkeit und outness. Zum einen würde queer dadurch im Bannstrahl des Medienmarktes stehen, zum anderen könne der Gang in die Öffentlichkeit gerade für illegalisierte Menschen sehr gefährlich sein. Queer politics seien darüber hinaus zu sehr auf den Einzelnen/die Einzelne bezogen und damit nicht in der Lage, Kollektivität zu denken und nachhaltig zu organisieren. Queer theory würde die Illusion wecken, die Geschlechterordnung ließe sich durch individuelles Handeln verändern. Die queere Theorie von der Performativität des Geschlechts würde allzu oft so verstanden, dass sich Geschlecht nach Gusto frei wählen lässt. Sexuelle und geschlechtliche Identität würden auf diese Weise warenförmig verdinglicht. Geschlecht sei aber vielmehr eine sehr stabile Kategorie gesellschaftlicher Hierarchiebildung, die sich nicht willentlich verändern oder ablegen lässt. All diese Kritikpunkte hauen in die gleiche Kerbe: sie überprüfen, wo queer in ein affirmatives Verhältnis zu neoliberalen Ideologien und Umstrukturierungsprozessen gerät.

Danke fürs Lesen! Meine sexuelle Identität ist übrigens: transonkel!