Stellt Euch vor, es ist Sarrazin und keiner geht hin!

Der schnauzbärtige Unhold hat ein neues Buch geschrieben. Es zeichnet sich ab, dass er damit wieder eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erreichen wird. Da der Autor mit seinen Thesen auf besorgniserregend viel Zustimmung stößt und darüber gesprochen werden muss, ist das auch gut so.

Die Art und Weise der Debatte ist meines Erachtens allerdings dringend verbesserungswürdig. Thilo Sarrazin darf nicht als gleichberechtigter Partner in öffentlichen Diskussionen neben Menschen, welche die demokratischen Grundwerte unserer Verfassung vertreten, erscheinen. Der Nazi-Skinhead Manfred Brothonk aus Dortmund-Ochsenbüttel wird auch nicht zu Beckmann in die Talkshow eingeladen. Dasselbe muss für Thilo gelten. Er ist ein lupenreiner Sozialdarwinist und Rassist und nicht salonfähig. Wenn wir mit ihm und nicht über ihn und vor allem über seine Anhängerinnen und Anhänger (was, wie gesagt dringend notwendig ist) sprechen, dann wird damit impliziert, dass seine rassistischen Aussagen der Auseinandersetzung würdig sind. Sind sie aber nicht. Wir diskutieren ja auch nicht, ob der Holocaust stattgefunden hat (und nein, leider ist das nicht so sehr anders, Sarrazin bewegt sich genau in dieser unheilvollen Ideologie und Denktradition).

Es soll noch mal kurz daran erinnert werden (für meinen Geschmack geschieht das nämlich nicht ausreichend), dass im März letzten Jahres der UN-Antirassismus-Auschuss (Ich wiederhole: Die UNO, nicht irgendein hyperradikales, weltfremdes Antifakollektiv!!!, sich diesen Einschub bitte in hysterisch-aggressiv gekreischtem Ton vorgetragen vorstellen), festgestellt hat, dass die Berliner Staatsanwaltschaft (als Behörde des Deutschen Staats) mit ihrer Entscheidung, Thilo Sarrazin nicht wegen Volksverhetzung strafrechtlich zu verfolgen, gegen Deutschlands völkerrechtliche Verpflichtung, Betroffenen wirksamen Schutz vor Rassismus zu gewähren, verstoßen hat. Wegen Thilo Sarrazins menschenverachtender Umtriebe musste die UNO (wieder aggressives Kreischen) angerufen und um Hilfe gebeten werden. Um das noch mal schnell klarzustellen: Es geht hier nicht um diesen einen gemeinen Menschen, es geht um den großen Zuspruch, die „Endlich traut sich mal jemand, das zu sagen“-Fraktion (wieder gekreischt: Nix da mutig getraut, Ihr Vollzeitarschlöcher, Ihr posaunt euren dumpf-bornierten Menschenhass im Schutz der reaktionären Masse schon die ganze Zeit und ständig in die Welt hinaus), die uns unablässig daran erinnern: Aus der Mitte entspringt der Rassismus (Plagiat nach Georg Diez, der hier darüber schreibt).

Links zum Weiterlesen:

Die Entscheidung des UN-Antirassismus-Ausschusses im Original

Eine deutsche Übersetzung wichtiger Auszüge der Entscheidung (leider ein klein bisschen schlampig)

Hervorragend aufbereitete Erläuterungen zum Sachverhalt des Deutschen Instituts für Menschenrechte

Nachtrag:

Während ich den Artikel schrub, verhinderten Demonstranten die vom Magazin Cicero organisierte Vorstellung des Buches im Berliner Ensemble. Es kam zu Tumulten, die Parteien beschimpften sich gegenseitig als „Faschisten“ respektive „Linksfaschisten“ (lese hier), was ja auch ein bisschen lustig ist. Ich bin unschlüssig, ob das jetzt toll ist. Ich wünschte mir, dass der Cicero und das Berliner Ensemble Sarrazin aus freiwilligem Entschluss keine Bühne bieten würden. Um das nächste Mal Handgreiflichkeiten und die Gefahr von Körperverletzungen zu unterbinden, könnte vielleicht die UNO versuchen, den nächsten Sarrazin-Auftritt mit einem Blauhelm-Einsatz zu verhindern?

32 Kommentare zu “Stellt Euch vor, es ist Sarrazin und keiner geht hin!

  1. Ich würde fürs Protokoll erwähnen, dass auch ich als jemand, der die demokratischen Grundwerte unserer Verfassung von Herzen ablehnt, nicht mit Herrn Sarazin auf einem Sofa sitzen wollte.

    • Herzallerliebster Muriel,
      Du bist aber ein kurioser Sonderfall, den ich in so kurzen Abhandlungen einfach nicht angemessen mitbehandeln und würdigen kann.
      Außerdem gehts ja mir ja nicht darum, was die Leute auf dem Sofa wollen, sondern, welche Botschaft da vermittelt wird. Wenn der in der Talkshow sitzt oder seine Bücher ernsthaft in der Zeit (wie „richtige“ Bücher) besprochen werden, oder er langseitige Interviews in Focus Money geben darf, dann wirkt das nicht so, als wäre allen klar, dass der eigentlich vorbestraft gehört (und zwar nicht wegen so gutartiger Vergehen wie Steuerhinterziehung).

      • Na gut, mit der Strafe würde ich dir natürlich auch sehr vehement widersprechen, aber eins nach dem anderen: Sicher bin ich ein kurioser Sonderfall, gerne sogar, und sicher war mein Kommentar nicht ganz ernst gemeint, aber finde es doch unabhängig von meiner persönlichen Einstellung zur Demokratie und unserem Staat sehr sonderbar, dass dir als Gegensatz zu Sarrazin offenbar vorrangig Demokratie und Verfassung eingefallen sind, statt wirklich originärer Positionen und Gründe, ihm zu widersprechen.
        Das würde mich sogar dann ein bisschen irritieren, wenn ich selbst auf dem Boden des Grundgesetzes stünde, wo immer der genau sein mag.

      • Ja, inwiefern würdest Du mir widersprechen? Volksverhetzung steht zu Unrecht unter Strafe? (Würde mich nicht wundern, wenn Du das so siehst, ist auch eine Haltung, die ich gut akzeptieren kann), oder findest Du, dass der Tatbestand nicht erfüllt ist? Letzteres finde ich eben schon.
        Ja, und unsere schöne Verfassung und das Demokratieprinzip, ich hab ja lange (Danke Oma!) und mit Abschluss Jura studiert und war in Staatsrecht immer ziemlich gut. Dennoch oder deswegen kann und will ich Dir keine „originäre“ Position bieten, aus der heraus ich Sarrazin kritisiere. Origineller und originärer als das Verfassungsrecht und die Gedanken und Theorien auf denen es fußt, bin ich leider gar nicht. Natürlich habe ich eine eigene konkrete politische Meinung, warum ich Sarrazin ablehne (Tja, und auch die ist leider nicht originell, ich bin wohl eine vulgär-adornistische Foucault-Anhängerin, einen echten originellen Gedanken hatte ich glaube ich noch nie, wie schon meine Oma immer sagte: „Das mit den Atomkraftwerken hast Du von Deiner Mutter!“). Ich will mich mit Thilo Sarrazin aber auch gar nicht inhaltlich auseinandersetzen, selbst wenn ich originäre Gedanken hätte, dafür wären sie mir zu schade. Auseinandersetzung ist meines Erachtens zur Genüge geschehen. Solange mir niemand was besseres vorschlägt, möchte ich mich gerne mit all denen, die sich, so wie es verstehe, nenne ich es mal „verfassungstreu“ betrachten (oder gut begründen, warum sie es nicht sind), darüber unterhalten, wie unsere Gesellschaft, die sich für meinen Geschmack gerade in eine nicht so gute Richtung entwickelt, in eine bessere solche gelenkt werden kann, da sind die Meinungen divergierend genug und die Energie gut investiert. Anders gesagt: Für mich ist der Basiskonsens, damit ich mit Leuten politisch diskutiere ein Bekenntnis zum Antifaschismus und Antirassismus. Leute, wie Sarrazin fallen für mich aus diesem Minimalkonsens heraus. Ich muss auch nicht mehr begründen, warum, das ist, wie schon gesagt, zur Genüge geschehen.
        Mir scheint, dass Du nicht verstanden hast, was ich sagen wollte (oder aber sehr wohl, aber es missfällt Dir so sehr, dass Du es eben absichtlich missverstehst). Ums noch mal ganz deutlich zu sagen: Meine Meinung ist: mit Sarrazin sollte nicht gesprochen werden. Dann rede ich schon lieber mit ein paar Skinheads, von denen ich denke, dass ihnen ein bisschen die Bildung fehlt, oder sie sehr viel Pech im Leben hatten. Denn: Ich meine, die Sachebene führt bei Sarrazin zu nichts. Seine Haltung ist (wieder meine Meinung) nicht das Ergebnis sachlicher Erwägungen, in solche ist sie nur verkleidet – sondern Ausdruck gestörter Emotionen (oder geschicktes Ausnutzen solcher bei anderen Leuten, um Bücher zu verkaufen, auch nicht besser). Ich finde, der Mann bräuchte eher einen Arzt.

      • Volksverhetzung steht zu Unrecht unter Strafe? (Würde mich nicht wundern, wenn Du das so siehst, ist auch eine Haltung, die ich gut akzeptieren kann), oder findest Du, dass der Tatbestand nicht erfüllt ist?

        Ersteres natürlich, letzteres aber auch.

        Origineller und originärer als das Verfassungsrecht und die Gedanken und Theorien auf denen es fußt, bin ich leider gar nicht.

        Du wirst doch gewiss eine eigene Meinung haben, aus der du die Überzeugung ableitest, dass das Grundgesetz eine gute Sache ist. Oder nicht?
        Gerade wenn Konsens das Ziel ist, halte ich es für evident sinnvoller, eine grundlegende Position zu beschreiben, statt einer abgeleiteten.
        Wenn ich zum Beispiel erklären wollte, warum ich Matusseks jüngst diskutierte Thesen nicht akzeptiere, würde ich mich darauf berufen, dass sie sachlich falsch und potentiell schädlich sind, statt darauf, dass sie den Schriften Anatol Stefanowitschs widersprechen.

        Mir scheint, dass Du nicht verstanden hast, was ich sagen wollte

        Ich denke, doch. Ich habe nur im Detail etwas dran zu mäkeln, wie du es gesagt hast.

      • Auf Stefanowitsch bin ich seit seiner voll unsachlichen Schwarzer-Verteidigung sowieso sauer. Matussek hat sich zum Glück selber diskreditiert (Es steht da nur noch eine Auseinandersetzung mit den Reaktionen auf die Reaktionen auf die Reaktionen aus), aus der Nummer bin ich also raus. Grundgesetz, Schmundgesetz: in meinem Bestreben, mich mit Sarrazin eben nicht inhaltlich auseinandersetzen zu wollen, dachte ich mir, als kleines Totschlagargument erwähne ich mal en passant, dass ich finde, dass Herr Sarrazin von Rechts ein wenig die freiheitlich demokratische Grundordnung verfehlt (Vielen, vielen Menschen ist das doch wichtig mit dem Grundgesetz). Auch nach meiner persönlichen Definition ist seine Haltung zum Beispiel schlicht undemokratisch. Und wie gesagt, er ist offen rassistisch, wie soll ich da noch originell sein. Und, es fällt doch auf, dass Linken gerne schnell mal Verfassungsuntreue vorgeworfen und mit tüchtigen Grundrechtseingriffen geahndet wird, bei Sarrazin, der damit von Rechts kommt, aber keiner quengelt.

      • Nein, rassistisch ist konkreter als undemokratisch „Antirassismus“ ist für mich ein Element von Demokratie. Und nein, es quengelt nicht keiner, meine Güte, Du bist aber streng, aber zu wenige und nicht konsequent genug. Als Rassist gehört er für mich nicht zu Maischberger eingeladen und auch aus der SPD rausgeschmissen, wenn ich nicht für dessen Abschaffung wäre (ich sag das lieber vorher), dürfte ihn auch gerne der Verfassungsschutz beobachten.

      • Das ist auch wieder so ein Pet Peeve von mir, dass dieser Begriff „demokratisch“ mit Elementen aufgeladen wird, von denen ich beim besten Willen nicht mehr erkennen kann, wie sie mit ihm zusammenhängen sollen, aber ich danke dann jedenfalls für die Erläuterung und verzichte darauf, es noch weiter ausufern zu lassen.

      • Schade einerseits, was genau Demokratie ist, wie sie funktioniert, finde ich sehr interessant, es ist doch aber eine sehr globale Frage (auf die ich wirklich gar keine abschließende Antwort habe, nur ein paar emotionale Präferenzen), fürchte ich und eignet sich nicht für eine Diskussion per Blogkommentaren.) Schreib doch mal was zu Deinem Demokratiebegriff (oder hast Du schon?), würde mich interessieren.

      • Na gut, dann ist die Diskussion aber echt zu Ende. Ich verstehs nicht so ganz, sagtest Du nicht gerade, die Aufladung des Begriffes sei ein pet peeve von Dir? Auch als, ich nenne es mal, ultra liberaler (oder wie nennst Du das?), musst Du doch ne konkrete Idee haben, wie so eine Welt, wo alle alles freiwillig machen, funktioniert, wie begrenzte Ressourcen verteilt werden, etc. oder habe ich da irgendwas grundsätzlich missverstanden? Gibts die Gesellschaft, oder gab es sie, die Dir vorschwebt, in Ansätzen schon mal irgendwo? Für mich sind das alles Fragen, die mit dem Demokratiebegriff verknüpft sind, aber egal. Ich respektiere Dein mangelndes Interesse natürlich.

      • Ich persönlich verstehe unter Demokratie im weiteren Sinne zunächst mal ein System, in dem eine Gruppe Menschen durch Abstimmungen Entscheidungen trifft. Im engeren Sinne eine Herrschaftsform, in der durch Abstimmungen Recht (im formalen Sinne) gesetzt wird.
        Mir selbst schwebt kein bestimmtes Gesellschaftsmodell als Ideal vor.

      • Danke schön. Für mich heißt Demokratie, dass in der Gruppe alle Menschen mit gleichem Stimmrecht vertreten sind, ja, bei den Griechen waren es nur die Männer, ich würde das aber auf Frauen, Sklaven und Metöken erweitern wollen. Komisch, dass jemand, mit so, mir scheint es „leidenschaftlichen“ Wertvorstellungen, kein Umsetzungsmodell vorschwebt (wahrscheinlich hab da wieder was falsch verstanden). Also, danke noch mal.

      • Und vielleicht noch ein Nachtrag, weil ich gerade merke, dass ich deine erste implizite Frage ziemlich übergangen habe: Es gibt ja nun mal eine halbwegs gesicherte Bedeutung des Wortes Demokratie, die man in Wörterbüchern und Lexika und so weiter nachschlagen kann, und die nach meiner Erfahrung auch tatsächlich ziemlich universell akzeptiert wird. Nach derselben Erfahrung, für dich ich natürlich keine Allgemeingültigkeit beanspruche, wird dann aber diese Bedeutung gerne heimlich überdehnt hin zu allem Möglichem, was der jeweilige Sprecher oder gerne auch die Sprecherin im Hinblick auf eine Gesellschaft oder einen Staat als schön und gut empfindet.
        Was verstehst du denn zum Beispiel unter Demokratie?

      • Für mich heißt Demokratie, dass in der Gruppe alle Menschen mit gleichem Stimmrecht vertreten sind, ja, bei den Griechen waren es nur die Männer, ich würde das aber auf Frauen, Sklaven und Metöken erweitern wollen.

        Siehst du, das meine ich. Ich begreife das nicht.
        Du hast gerade eben selbst noch gesagt, dass Antirassismus Bestandteil deines Demokratiebegriffes ist.
        Und dann definierst du Demokratie, und Antirassismus kommt nicht vor, und lässt sich daraus auch nicht ableiten.
        Wie soll einen das denn nicht peeven?

        Komisch, dass jemand, mit so, mir scheint es “leidenschaftlichen” Wertvorstellungen, kein Umsetzungsmodell vorschwebt

        Zu meinen leidenschaftlichen Wertvorstellungen gehört eben auch, dass man anerkennen sollte, wenn man nicht genug Informationen hat, um sich eine fundierte Meinung zu bilden.

      • Hm, Du weißt ganz genau, dass Steuern schlecht sind, aber nicht, wie man Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen anders organisieren sollte, interessant.
        Und zum letzten Mal die Demokratie, natürlich ist Rassismus mit drinnen. (Ehrlich gesagt würde ich auch bezweifeln, dass es da so eine einfache Definition gibt, die alle teilen). Also für mich ist Demokratie Volkssouveränität – Also alle Entscheidungen lassen sich auf die Bürger zurückführen. Dabei würde ich „Bürger“ oder „Volk“ gerne nicht staatsbürgerschaftsrechtlich sehen, sondern lieber etwas erweitert. Aber völlig egal für meinen Punkt. Natürlich ist bei der Souveränität aller erforderlich, dass auch alle effektiv im Stande sind, wirklich an der Entscheidungsfindung teilzuhaben. Dazu gehört für mich auch, allen Bürgern die für eine informierte Entscheidung notwendigen Informationen zugänglich zu machen, die Menschen durch Bildung überhaupt in den Stand zu setzen, das System zu kapieren (weiß doch schon niemand, was „Zweitstimme“ bedeutet, für mich ein Demokratiedefizit.) Rassismus ist für mich auch ein Faktor der sich indirekt und direkt (Sarrazin z. B. will ja am liebsten alle Türken rauswerfen aus Deutschland) auf wirksame Teilhabe auswirkt. Zum Beispiel durch verschiedene Ausgrenzungmechanismen. (Ich bin sehr davon überzeugt, dass Rassismus in Deutschland dazu führt, dass viele Leute mit sogenanntem Migrationshintergrund ihre Teilhaberechte weniger wahrnehmen. Wenn ich bestimmte Bevölkerungsgruppen pauschal abwerte, dann spreche ich ihnen grundsätzlich auch das Recht auf Teilhabe, ihre Rolle als gleichberechtigte Subjekte im politischen Prozess ab.

  2. Falls es auch erwünscht ist, einzelne Merkmale des eigenen Demokratieverständnisses beisteuern zu dürfen, ohne den Begriff in Gänze und erschöpfend herleiten zu können … also nur falls das erwünscht ist … möchte ich anmerken, dass keine demokratische Ordnung langfristig funktionieren kann, wenn sich der Volkssouverän nicht auch als verantwortlich wahrnimmt und sich mit den Organen seiner Gesetzgebung identifiziert. Selbstverständlich nicht kritiklos, in manchen Punkten vielleicht auch ahnungslos, aber prinzipiell eben doch als Teil eines Systems, das er zu stützen (und ggf. auch zu reformieren) gewillt ist.

    Aus meiner Sicht unterschätzen die Thilos und Möchtegern-Thilos die Widerstandskraft und Robustheit der gesellschaftlichen Ordnung, in der sie nutznießend herumrüpeln, ganz gewaltig. Die ist schneller dekonstruiert als ich „Legislaturperiode“ buchstabieren kann.
    Und nein, es tröstet mich ganz und gar nicht, dass gerade die asozialien Brandredner zu den Ersten gehören werden, die sich ihrer eigenen Überlebensunfähigkeit ohne schützende Strukturen schmerzhaft bewusst werden.

    • Hallo 1falt,
      also meinerseits ist das sehr erwünscht 🙂 Ich würde sagen, damit vertrittst Du einen „materiellen“ Demokratiebegriff, so wie ich auch. Es reicht nicht, dass die Bürgerinnen formal der Souverän sind (in dem sie aussuchen, wer die Gesetze verabschiedet), sondern neben diesem formalen Recht muss auch eine Identifikation einhergehen (wenn ich das richtig verstehe). Was meinst Du mit „Dekonstruktion“ der gesellschaftlichen Ordnung?

  3. Da hab ich gar nicht so genau drüber nachgedacht. Die Beschreibung ist tatsächlich unscharf und wohl auch unpassend, weil ich unzulässigerweise vom Umgang mit Texten zum Verstehenwollen gesellschaftlicher Strukturen gesprungen bin.
    Was ich sagen wollte … oder mir jetzt mal so überlegt habe 😉
    Mit dem Begriff „Demokratie“ als definierte Ausprägung politischer Herrschaft setze ich doch eigentlich voraus, dass Herrschaft tatsächlich politisch ausgeübt wird. Demagogie, Lobbyismus, Bestechung, Geheimdienste, Volksverdummung oder eine Gleichschaltung der Medien und Informationsdienste können eine konstitutionelle „Demokratie“ zwar nicht mit Staatsstreich, Pauken und Trompeten durch eine „Diktatur“ ersetzen … sehr wohl aber langsam ausgehöhlen und zu einer werden lassen. Die Entmachtung demokratisch organisierten Politik ist also ein schleichender, schwer zu fassender Prozess, der (für mein Gefühl) in den letzten Jahren gewaltig an Fahrt aufgenommen hat.
    Ich halte es zwar nicht für undemokratisch aber doch für säußerst bedenklich, dass unsere Regierungsbehörden (wieder) mit einem 12 Jahre alten Betriebssystem arbeiten, für das Microsoft (!!!) in Bälde der Support eingestellt.
    Ich finde es bizarr, dass noch immer „politikverdrossen“ genannt wird, was längst „politisch ahnungslos und gänzlich desinteressiert“ ist.
    Die politische Ordnung ist ja nicht stabil, nur weil die ergrauten Betonköpfe der Parteien so schön berechenbar auf ihren Posten sitzen und Jahr für Jahr dasselbe sagen.
    Wie weit reicht denn deren Einfluss, wenn es darum geht, wirtschaftliche Interessen privater Unternehmensverbände und globale Finanzmärkte zu kontrollieren oder gar zu beschränken?
    Wie weit reicht unsere vielgerühmte Wirtschaftskraft, wenn wir nur noch veredeln, was in anderen Ländern erfunden, konstruiert, hergestellt und gefertigt wird?
    Wie weit reicht unsere Meinungsfreiheit, wenn Massenmedien ausschließlich den Interessen pivater Konzerne verpflichtet sind?
    Wie vertrauenswürdig ist ein Staat, der sich illegal Steuerdaten beschaffen muss, um seine Bürger dazu zu bewegen, ihren Solidarbeitrag zu leisten?
    Wie demokratisch ist ein Rechtsstaat, wenn Bürger und Politiker (ohne juristisches Examen) das Recht und seine Gesetze nicht verstehen?
    Was taugt eine Demokratie, deren Volkssouverän abhängig, ahnungslos, von den herrschenden Diskursen abgeschnitten und mit Game-Shows beschäftigt ist?

  4. Ja, das sehe ich alles exakt genauso. Allerdings legst Du einen undefinierten Begriff des „richtigen“ politischen Prozesses und des „falschen“, zum Beispiel Demagogie, zugrunde. (Wo zum Beispiel ist die Grenze zwischen überzogener Formulierung als Stilmittel der Rhetorik und Demagogie?). Beziehungsweise für das „falsche“ führst Du einen Haufen guter Beispiele an. Interessant wäre ja jetzt (aber das kann ich auch nicht leisten) zu sagen, wie das „richtige“ zu funktionieren hat und sich dann darum zu bemühen. Ich glaube, meine eigenen Idealvorstellungen sind diesbezüglich immer etwas, nennen wir es „elitär“, beziehungsweise schwärme ich von Basisdemokratie und kann mir nicht vorstellen, wie das tatsächlich funktionieren soll.
    So gut kann das, was wir früher hatten, ja auch nicht gewesen sein, sonst hätte es uns ja nicht ins Heute geführt.

  5. Eigentlich find ich ja affektiert, sich hinter weisen Zitaten zu verstecken … aber hier muss nun wohl doch Adorno herhalten, denn es gibt aus meiner Sicht tatsächlich kein richtiges Leben im falschen. Entwicklungen lassen sich nicht rückgängig machen. Wir werden ja auch sichtlich älter. Gut, es gibt Verhaltensweisen, die diesen Prozess beschleunigen, und ein paar Maßnahmen die Verschleißerscheinungen ein wenig abzumildern … aber alles in allem werden wir älter und älter, und am Ende sind wir tot. Mit den Gesellschaftsordnungen verhält es sich ähnlich. Da lässt sich nicht viel drehen. TROTZDEM ist es durchaus sinnvoll, sich altersgerecht zu verhalten. Während ich es in der Pubertät sehr gesund und förderlich finde, sich wütend, selbstgerecht und einseitig gegen sämtliche Autoritäten aufzulehnen, scheint mir diese Haltung 30 Jahre später bzw. altersschwachen Greisen gegenüber nicht mehr wirklich angemessen zu sein. Das eigene Denken und Handeln den sich verändernden Umständen anzupassen mag manchmal schwierig oder zumindest unbequem sein – es macht das Zusammenleben aber einfacher für alle (und das ist meines Erachtens das Ziel einer sozialen Ordnung, bzw. demokratischer Strukturen).

  6. Die Antwort finde ich etwas unbefriedigend. Ja, Menschen werden älter. Aber: Gesellschaftliche Transformationen sind doch davon nun mal unabhängig. In bestimmten Bereichen haben wir in Deutschland seit hunderten Jahren eine Tendenz zur Liberalisierung, obwohl es immer gleich viele junge und dann ältere Menschen gibt, In manchen Bereichen, z. B. in der Sozialpolitik hatten wir bis in die 70er Jahre eine Reformpolitische, Demokratisierende Entwicklung, soziale Schichten wurden durchlässiger, die Gesamtschule erfunden etc. – Seit den 80ern haben wir dagegen ein Rollback, Sozialabbau, Entdemokratisierung – Bei gleichzeitiger Liberalisierung anderer Bereiche (wie ich zufällig in meinem neuen Posting versuche zu beschreiben). Wieso sind diese Entwicklungen so? Das ist doch interessant und hat mir der Frage, wer wie alt ist, m. E. nicht so viel zu tun

  7. Metapheralarm! Ich wollte zum Ausdruck bringen, dass auch eine gesellschaftliche Ordnung altert bzw. degeneriert. Die Zeiten von Aufbau, Eroberung und Wachstum sind vorbei. Die Begrenztheit der Möglichkeiten Ressourcen wird fühlbar. Viele Strukturen sind festgefahren, das Grundgerüst wird ganz langsam porös.

  8. Ah, danke für die Klarstellung, ich hoffe, dass ich nicht unfreundlich klang. Aber ich wollte dem widersprochen haben. Da ich finde, dass sich Gesellschaften anders als abgegrenzte biologische Organismen nicht linear (naja, so richtig linear sind die ja auch nicht, zugegeben) sondern doch eher wellenförmig verhalten, oder noch ganz anders. Also, ich finde, die Metapher des Alterns hilft uns nicht, die Entdemokratisierungstendenzen, mit denen wir es aktuell zu tun haben, zu erklären. Aber ich kann es auch nicht besser.

  9. Vielleicht widersprechen sich unsere Vorstellungen gar nicht so sehr. Organische Systeme entwickeln sich ja auch nicht linear. Sie reproduzieren sich. Auch in einem Einzelorganismus werden fortlaufend Einzelteile erneuert. Dennoch lassen sich Systeme umso schwerer steuern, je ausdifferenzierter sie sind. Das macht sie unflexibel und anfälliger für Zusammenbrüche

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